Entschädigungspflicht des Gemeinwesens
Rechtssprechung

Aktuelles

Besteht eine Entschädigungspflicht des Gemeinwesens bei immissionsbedingten Störungen im Zusammenhang mit Bauarbeiten an einer öffentlichen Anlage (z. B. einer Strasse)?

I. Ausgangslage

  1. Das Tiefbauamt der Stadt Zürich stellt jährlich rund 100 Bauprojekte fertig. Nebst kleineren, lediglich einige Arbeitstage andauernde Arbeiten wie die Behebung von Belagsschäden, umfassen diese aber auch zahlreiche, über Monate oder gar Jahre andauernde Grossprojekte wie die Tramverbindung Hardbrücke, die Sanierung des Centrals und des Stauffachers, ganze Quartiersanierungen oder die Neugestaltung des Bahnhofs Oerlikon.
  2. Aktuell sind gemäss der online verfügbaren Übersicht aller öffentlichen Baustellen («Baustellenliste von A-Z») 62 Tiefbauprojekte pendent. Beispielsweise führt die Stadt an der Forchstrasse (Abschnitt Freiestrasse bis Haltestelle Burgwies) dringende Sanierungsarbeiten durch, damit die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Zürich "auch weiterhin von einer einwandfreien Infrastruktur profitieren können". Die Arbeiten begannen am 19. Februar 2018 und dauern voraussichtlich bis Ende Dezember 2018 an. Täglich werden dadurch erhebliche Immissionen (Lärm, Staub, etc.) verursacht, welche die Anwohner grundsätzlich hinzunehmen haben. Was aber passiert nun, wenn die 10 Wohnungsmieter der Liegenschaft Forchstrasse 194 gestützt auf das Mietrecht (Art. 259d OR) je eine 10%-ige Mietzinsreduktion von ihrem Vermieter verlangen? Was passiert, wenn dem in der Liegenschaft Forchstrasse 203 eingemieteten Detailhändler bzw. dem Anwaltsbüro aus der Liegenschaft Forchstrasse 217 je eine Reduktion von 25% zugesprochen wurde? Es stellen sich in diesem Zusammenhang die nachfolgenden

II. Rechtsfragen

  1. Trifft die Stadt Zürich (Bauherrin) als Gemeinwesen eine Entschädigungspflicht bei übermässigen Immissionen im Zusammenhang mit Bauarbeiten an einer (kommunalen) Strasse?
  2. Hat der private Eigentümer und Vermieter einer benachbarten Liegenschaft diese Entschädigung aus der eigenen Tasche zu bezahlen oder besteht die Möglichkeit, derartige Zahlungen, welche sie an ihre Mieter leisten mussten, gegenüber der Stadt Zürich als Schaden geltend zu machen und die bezahlten Beträge zurückzufordern?
  3. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den relevanten, privat- und öffentlichrechtlichen, gesetzlichen Grundlagen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Für eine fallbezogene Beurteilung sind zudem auch stets die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Allgemein kann jedoch ausgeführt werden was folgt:

III. Allgemeine Ausführungen zu den sich stellenden Rechtsfragen

  1. Fügt ein privater Grundeigentümer bei rechtmässiger Bewirtschaftung seines Grundstücks, namentlich beim Bauen, einem Nachbarn vorübergehend übermässige und unvermeidliche Nachteile zu und verursacht er dadurch einen Schaden, so kann der Nachbar vom Grundeigentümer gestützt auf Art. 679/679a i.V.m. Art. 684 ZGB Schadenersatz verlangen. Auch das Gemeinwesen als Nachbar wird grundsätzlich aus Art. 679/679a i.V.m. 684 ZGB verpflichtet, soweit es als Privatrechtsträger in Erscheinung tritt. Das ist dann der Fall, wenn das Gemeinwesen ausserhalb der Wahrung von öffentlichen Aufgaben baut. Werden im Zusammenhang mit den zur Diskussion stehenden Störungen jedoch öffentliche Aufgaben erfüllt, und sind die Störungen auch noch "unvermeidbar" bzw. bloss mit einem unverhältnismässig hohen Kostenaufwand zu vermeiden (was bei Strassen- oder Fluglärm bzw. Lärm im Zusammenhang mit dem Bau oder Unterhalt dieser öffentlichen Anlagen und Werken in der Regel der Fall ist), kommt zwingend das Enteignungsrecht zur Anwendung.
  2. Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts ist grundsätzlich zwischen "andauernden" (aus dem Betrieb bzw. der Nutzung einer öffentlichen Anlage oder eines öffentlichen Werkes resultierenden Störungen, z.B. Strassenlärm, Lichtimmissionen, etc.), sowie "vorübergehenden Störungen" (welche sich beispielsweise aus Bauarbeiten ergeben können) zu unterscheiden. Allerdings hätten die Nachbarn von öffentlichen Werken – und damit auch von Strassen – sowohl andauernde als auch vorübergehende Störungen in der Regel entschädigungslos hinzunehmen, weil das öffentliche Interesse an der Erfüllung der öffentlichen Aufgabe grundsätzlich überwiege.
  3. Das Gemeinwesen kann bei "vorübergehenden Störungen" aus Bauarbeiten lediglich dann und gestützt auf § 1 AbtrG i.V.m. Art. 684 ZGB zur Leistung von Schadenersatz verpflichtet werden, wenn (i) die Einwirkungen ihrer Art, Stärke und Dauer nach übermässig sind, und (ii) zu einer beträchtlichen Schädigung der Nachbarn führen (vgl. BGE 134 II 164, E. 8.1 und 8.4, mit weiteren Hinweisen).
  4. Für die Auslegung des Begriffs der "Übermässigkeit" ist Art. 684 ZGB massgeblich, welcher analog Anwendung findet. Um festzustellen, ob die streitgegenständlichen Immissionen übermässig sind, hat das Gericht die gegenläufigen Interessen der betroffenen Personen, unter Berücksichtigung des Ortsgebrauchs, der Lage und der Beschaffenheit des Grundstücks, sowie der Art der Immissionen, gegen-einander abzuwägen. Werden bei den Bauarbeiten die öffentlich-rechtlichen Vorschriften eingehalten, ist die Einwirkung in aller Regel nicht übermässig und daher auch nicht zu beanstanden.
  5. Zudem muss eine allfällige Übermässigkeit der Störung auch natürlich und adäquat kausal zu einer "beträchtlichen Schädigung" (genauer: ein beträchtlicher Schaden) führen, obwohl dieses von der Rechtsprechung entwickelte Kriterium im Rahmen der Einführung des neuen Art. 679a ZGB per 1. Januar 2012 nicht wörtlich im Gesetzestext festgeschrieben wurde (erwähnt wird lediglich die Voraussetzung eines "Schadens"). Zur Frage, wann eine beträchtliche Schädigung zu bejahen ist, existiert praktisch keine Rechtsprechung, weder auf kantonaler, noch auf Bundesebene. In einem Urteil aus dem Jahre 1997 hat das Bundesgericht die Frage offengelassen, ob eine Einbusse von 10% des jährlichen Mietertrages während höchstens zwei bis drei Jahren genüge, um in Hinblick auf den Gesamtwert der Liegenschaft einen schweren Schaden anzunehmen (vgl. BGE 123 II 560).

IV. Zusammenfassend

  1. Im Ergebnis ist somit festzuhalten, dass die Anforderungen zur Geltendmachung einer Schadenersatzforderung gegenüber dem Gemeinwesen sehr hoch sind. Zudem ist zu beachten, dass dem zuständigen Gericht betreffend jeder der vorerwähnten Anspruchsvoraussetzungen ein erheblicher Ermessensspielraum zusteht, und deshalb oftmals das "öffentliche Interesse" des Gemeinwesens an der Erfüllung von öffentlichen Aufgaben (wie beispielsweise Bau- oder Unterhalts-arbeiten an einer Strasse) als überwiegend bewertet wird.
  2. Demnach muss es unter diesen Voraussetzungen oberstes Ziel sein, Reduktionsan-sprüche, welche von Mietern auf dem zivilrechtlichen Wege (Art. 259d OR) durchgesetzt werden, so gut als möglich abzuwehren. Zumindest nach hier vertretener Auffassung sollten an die Bejahung eines Mangels im mietrechtlichen Sinne höhere Anforderungen gestellt werden, sofern die streitgegenständlichen Immissionen aus einer "im öffentlichen Interesse" liegenden Baustelle resultieren. Rechtsprechung, welche diese These stützen würde, ist jedoch – soweit ersichtlich – (noch) nicht verfügbar.

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